Swiss Jura Marathon 1999

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Liebe Freunde von passtschon98, der nachfolgende Text ist etwas umfangreicher geworden, als eigentlich zumutbar (Der Lauf war eben auch etwas länger, als der Prospekt ahnen liess). Ich habe versucht, das Ding in verschiedene Kapital aufzugliedern. Damit könnt ihr euch beim Lesen auf die euch interessierenden Texte beschränken. Die Geschichte ist auch etwas persönlicher geworden, als man es sich vielleicht gewohnt ist. Aber eben, so ein Lauf ist - trotz tollem Gruppenerlebnis - schlussendlich eine höchst persönliche Sache.

 

Swiss Jura Marathon - Europas längster Berglauf

Aus dem Prospekt: Vom Genfersee bis zum Rhein nach Basel führt die Laufstrecke. 323 km in 7 Tagen. Die TeilnehmerInnen begegnen in diesem einzigartigen Rennen einer Kulturlandschaft wie aus dem Bilderbuch, mit sanften Hügelketten, steilen Felsabbrüchen, einsamen Bauernhöfen und gut erhaltenen historischen Stadtkernen. Im Jahre 1999 fand der Lauf als "Trail" statt, d.h. in verschiedenen Laufgruppen zu 4 - 8 LäuferInnen mit Laufgruppenleiter. Es gab keine Zeitmessung, keine Rangliste - einziges Ziel: Laufen, lang und gemütlich, geniessen, ankommen.

Im kommenden Jahr wird er dann wieder als eigentliches Rennen durchgeführt. Möglich sind auch 2er-Stafetten (jeder läuft die Hälfte).

 

Wovor läuft der Mensch eigentlich davon ....

Diese wohl berechtigte Frage hat mir meine Frau gestellt, nachdem sie mich in den letzten Wochen beinahe täglich nach der Arbeit in den Wald davonrennen sah. Ich habe diese Frage lange mit mir rumgetragen und mich gefragt, ob es wirklich so sei, dass ich mit meinen zunehmenden Trainingseinheiten versuche Probleme zu verdrängen - also quasi auf der Flucht sei. Ich glaube nun, ich habe eine Antwort gefunden - meine Antwort: Ich laufe nicht Problemen davon, ich laufe dem Leben entgegen.

Das Laufen verändert einen Menschen. Er beginnt, ein wenig gesünder zu leben - etwas bewusster zu essen, etwas weniger zu trinken, seine Prioritäten anders zu setzen. Er beginnt, sich auch mit der Umwelt kritischer auseinanderzusetzen und überprüft zunehmend sein Verhalten gegenüber Mensch und Tier. Er wird sich nicht mehr bei jeder Gelegenheit in sein Auto setzen. Er wird dankbarer - für seine Gesundheit, die Möglichkeit laufen zu können. Er realisiert, dass dies nicht selbstverständlich ist. Er hat erfahren, dass Konsum nicht zum Glück führt, dass nur über die eigene Leistung eine tiefe Befriedigung erlangt wird.

Ich darf für mich feststellen, dass ich nach einer Trainingseinheit ausgeglichener und aufgestellter bin. Laufen ist vorallem eine Sache des Kopfes. Während den Läufen passiert es regelmässig, dass man gedanklich in eine völlig andere Welt entschwindet. Oft nimmt man gar nicht mehr wahr, welche Wege man gerade läuft, bzw. hat nachher Mühe sich zu erinnern, welche Route man gelaufen ist. In solchen Situationen beschäftigt man sich dann oft mit Problemen, die einen gerade belasten. Man liebt seine Freunde und quält seine Feinde. Es wäre zwar vermessen, zu behaupten, man könne laufend seine Probleme lösen, es ist jedoch eine Tatsache, dass man während des Laufens in die Lage versetzt wird, seine Probleme in einer anderen Optik zu sehen - und damit vielleicht einfacher einer Lösung zuzuführen. Was man im Büro oder zu Hause vergeblich versucht hat, erscheint im Wald plötzlich klar und lösbar. Ich bin deshalb überzeugt, dass das Laufen wesentlich dazu beiträgt, die zunehmenden beruflichen Belastungen besser zu meistern und damit insgesamt zu einer besseren Lebensqualität führt.

 

Andreas Engler, Oberrieden

Er trägt eigentlich die Hauptschuld, dass ich mich überhaupt zu diesem Lauf angemeldet habe. Andreas Engler lernte ich im Februar 1997 kennen - in einer Pizzeria in Celerina (Oberengadin) kamen wir zufällig ins Gespräch. Ich hatte mich zu diesem Zeitpunkt gerade entschlossen, mich auf den New York Marathon vorzubereiten, mit dem Gedanken, anschliessend meine Laufkarriere zu beenden und mich neuen Betätigungen zuzuwenden.

Andreas führt am Swiss Jura Trail eine Gruppe. Er hat nie gesagt, ich solle doch auch mitkommen. Er hat mir aber von diesem Laufereignis so lebendig und mitreissend erzählt, dass ich innerlich schon bald den Wunsch verspürte, diesen Lauf auch einmal zu machen. Allerdings war es mir zu diesem Zeitpunkt ein Rätsel, wie man so etwas überhaupt durchstehen soll. Ausschlaggebend war dann ein Telefonanruf von Andreas nach Weihnachten 1998. Nach diesem Gespräch war ich entschlossen, mich für den Jungfrau-Marathon 1999 anzumelden. Nachdem ich im Frühling 99 Bericht erhielt, dass mir eine Startnummer zugeteilt werde, wusste ich, dass ich mein Training sofort intensivieren musste. Also, dachte ich, wäre es vielleicht genau das richtige Jahr, auch den SJM ebenfalls ins Programm aufzunehmen.

Andreas Engler hat Jahrgang 1927. Er läuft jedes Jahr, u.a. den Swiss Jura Marathon, den Swiss Alpine und den Jungfrau Marathon. Andreas ist ein Laufkamerad, wie man sich keinen besseren wünschen könnte. Es war mir eine Ehre, den SJM in seiner Gruppe starten zu können. Er führt seine Gruppe souverän über alle Höhen und Tiefen. Er hilft vorne, er hilft hinten, hat stets Zeit für ein freundliches Wort. Während des Laufs stellt er seine eigenen Bedürfnisse ganz und gar in den Hintergrund. Das Wohl jedes einzelnen Läufers oder Läuferin seiner Gruppe geht vor.

Ich bin dankbar, dass ich Andreas kennenlernen durfte.

Andreas Engler (rechts) und ich
Andreas Engler (rechts) und ich

Vorbereitung

Mein Trainingsumfang bis anfangs 1999 lag zwischen 50 - 60 km pro Woche, aufgeteilt in 3 - 4 Einheiten. Meine Bestzeiten:

M: 3 h 52
HM: 1 h 33
10 Meilen: 1 h 11

Ab anfangs 1999 versuchte ich täglich ein Stück zu laufen. Tatsächlich schaffte ich ca. 5 Trainings und steigerte meine Wochenleistung auf ca. 60 - 70 km.

In den letzten 6 Wochen vor dem SJM steigerte ich dann nochmals und erreichte bei ca. 5 - 6 Trainingstagen ca. 100 km pro Woche. Längere und lange Läufe standen im Vordergrund. Zweimal rannte ich mehr als 3 h.

Im Nachhinein glaube ich, ich war recht gut vorbereitet, wobei einige Longjogs, d.h. über 3 h, noch gut getan hätten. Die Muskulatur ist eben relativ schnell antrainiert - Gelenke, Bänder, Sehnen etc. brauchen länger.

 

Anreise nach Genf Samstag, 3. Juli 1999

Die Fahrt nach Genf unternahm ich zusammen mit Andreas. Im Zug war auch Peter der mitlaufende Arzt. Dafür war ich dankbar, denn auf dieser gemeinsamen Zugfahrt konnte ich von den beiden Routiniers bereits viel erfahren. Nachdem mir Peter eingestanden hatte, dass er ebenfalls nicht sehr viel zum Trainieren gekommen sei, war ich ein wenig erleichtert. Anderen ging es offenbar nicht besser (Nachdem ich ihn dann allerdings laufen sah, muss ich sagen, entweder hat er untertrieben, oder er ist einfach ein Lauftalent).

Der 1. Tag war etwas mühsam. Man kennt sich noch nicht, man kennt sich nicht aus, es ist alles fremd und die eigene Nervosität ist gross. Schaff ich’s, schaff ich’s nicht?

Nebst ca. 10 Begleitpersonen trafen rund 50 Läuferinnen und Läufer ein. 2 Dänen, 1 Amerikaner, 10 Schweizer, die übrigen aus Deutschland. Und was waren das für Leute? Es stellte sich dann zwar erst im Laufe der Woche so langsam heraus, aber wenn jemand glaubt, ich sei ein Spinner, so war ich plötzlich umgeben von Oberspinnern: Monika hält den Weltrekord über 100 km auf der Bahn; Sören der Däne kommt gerade zurück vom Marathon auf der Chinesischen Mauer; Martin war gerade in Südafrika an einem 80 km-Rennnen; Werner ist zwar anwesend, muss aber auf den Start verzichten, da er gerade ein 100 Meilen Rennen in den USA bestritten und seine Altersklasse gewonnen hat, usw. Viele nehmen zum x-ten Mal an diesem SJM teil, waren gerade noch in Biel und sind Ende Juli am Swiss Alpine und später am Juramarathon sowieso dabei.

Ja, da war noch André, der Polizist aus dem Aargau. Wir beide merkten bald, dass wir so ziemlich die grössten Anfänger in diesem Feld von Angefressenen waren. Es bildete sich dann auch eine kleine Aargauergruppe, zu welcher noch Hans Schnyder, 2maliger Biel-Gewinner (Bestzeit ca. 6 h 40), Reto der Heimweh-Bündner und René der schnelle Gretzenbacher stiessen. Die 3 Letztgenannten sind übrigens auch schon das härteste 100 Meilen-Rennen in Leadville, Colorado, gelaufen (Start auf über 3'000 m Höhe). Dieses Rennen wollen sie auch im kommenden Jahr laufen.

Beim letzten Bier vor dem Start mustert Hans Schnyder die Tischrunde und prophezeit jedem, wieviele kg er im Laufe dieser Woche abnehmen werde. Bei mir schätzte er 2 kg.

 

1. Tag: Genf - St. Cergue 45 km +1200 m/-534 m

Ich bin noch nie 45 km am Stück gelaufen.
Ich hasse es, am frühen Morgen zu laufen.

Start um 08.00 Uhr an der Genfer Seepromenade beim Jet d’Eau. Es war bereits sehr warm und die Tageshöchsttemperaturen wurden mit 34° vorausgesagt. Das war für mich ein Grund mehr zu Besorgnis. Ich mag keine grosse Hitze, der erste der da jeweils nicht mehr mitmacht ist mein Magen. Schöne Aussichten.

Nun war allerdings keine Zeit mehr, sich gross Sorgen zu machen. Nun war die Zeit für Taten gekommen. Es geht los. Urs Schüpbach, der Chef-Organisator, fragt: "Habt ihr alle eure Flaschen dabei." Simone aus Berlin deutet auf ihren Mann Hardy und meint: "Ja, ich habe meine Flasche dabei!"

Ich fühle mich von Beginn weg gut. Dieses Gefühl verstärkt sich und ich versuche mit viel Trinken meine Kräfte optimal einzusetzen. Das Tempo ist gemächlich (ca. 10 km/h), die Stimmung gut. Bis km 22 bleibt unsere Gruppe zusammen. Im Aufstieg zum La Dôle bleiben dann die Langsameren zurück und schon bald einmal bin ich ganz alleine unterwegs. Im Aufstieg überhole ich irgendwann die Simone aus Berlin - sie hat am Vorabend noch gefragt, ob es unterwegs auch Bier gebe - ich biete ihr Wasser an. Von Bier sagt sie nichts mehr.

Die Sonne brennt unbarmherzig und ich muss mich doch kurz fragen, wieso ich mir dies freiwillig antue, denn Sonntag ist auch noch. Allerdings nur einen kurzen Moment, dann geniesse ich den Ausblick über die Waadt und den Genfersee. Es ist schlicht grandios.

Unterwegs laufe ich auch einige km mit Clayton Wagner aus Denver, Colorado. Er hat Probleme mit seinem Knie und ist betrübt. Er glaubt im Moment nicht daran, dass er diese Woche durchstehen würde.

Irgendwann erreiche ich die letzte Verpflegungsstelle beim Chalet La Dôle auf einer Höhe von 1'400 m. Ich war nun bereits 38 km gelaufen. An dieser Stelle wäre mir beinahe ein fataler Fehler unterlaufen. Da man auf den Bergwanderwegen bei jedem Schritt schauen muss, wo man hintritt, ist es schnell passiert, dass man eine Abzweigung verpasst. Erst auf dem Weg zum Gipfel erklären mir Wanderer, dass der Weg nach St. Cergue weiter unten durchgeht. Dieses Malheur kostet mich ca. 500 m.

Um 14.00 Uhr laufe ich in St. Cergue ein. Ich war 6 h unterwegs für die 45 km, davon wohl ca. 5 ½ h reine Laufzeit. Nicht gerade berauschend, ich weiss, aber das ist unwichtig und interessiert heute gar nicht. Wichtiger ist, dass ich mich gesund fühle und das Gefühl habe, meine Batterien seien nicht völlig leer. Konkret plagten mich kleinere Wadenkrämpfe. Dagegen hole ich mir beim Arzt etwas Magnesium. Auch mein Magen hat sich gut gehalten, obwohl er nach ca. 40 km meldete, dass es ihm für heute langsam reicht. Ich trank ab diesem Zeitpunkt nur noch lauwarmen Tee (kein isotonisches Zeugs mehr) und habe das Gefühl, dass mir dieser sehr gut bekommt. Die Spaghetti eine Stunde nach dem Lauf sind für mich noch zu früh. Gegen Abend probier ich das erste Bier und find es herrlich.

Das grobe Tagesprogramm sah übrigens für alle Tage ungefähr wie folgt aus:

05.30 Aufstehen und Morgenessen anschliessend Vorbereitung auf den Lauf
07.00 Start
13.00 Zieleinlauf. Anschliessend Körperpflege, Spaghetti-Essen, Relaxen
18.00 Nachtessen, Orientierung durch Organisator
21.30 Nachtruhe

Geschlafen wurde in Turnhallen auf Matten. Mit Watte in den Ohren ist dies ganz gut gegangen.

 

2. Tag St. Cergue - Vallorbe 47 km +730 m/-1021 m

Ich bin noch nie 47 km am Stück gelaufen.
Ich hasse es, am frühen Morgen zu laufen.

Ich erwache wie vorgesehen kurz nach 05.00 Uhr. Beim Aufstehen stelle ich fest, dass sich mein Körper offenbar ganz gut erholt hat. Ich fühle mich gut - keine Schmerzen, kein Muskelkater. Der Magen signalisiert Hunger, also ist er auch gesund. Beim Frühstück beklagt sich eine Läuferin beim Arzt über Schmerzen im Oberschenkel. Dieser beruhigt sie mit den Worten: "Wenn Dir beim SJM am Morgen nichts weh tut, dann bist Du tot." Die Möglichkeiten des Arztes sind natürlich beschränkt, da keine Zeit zur Erholung oder zum Auskurieren einer Verletzung bleibt.

Um 07.00 Uhr erfolgt der Start. Ich bleibe vorerst in der Gruppe von Andreas, da mir das Lauftempo passt und ich weiterhin vorsichtig zu Werke gehen möchte. Beim Aufstieg zum Col de Marchairuz treffe ich wieder auf Clayton. Sein Laufstil schaut bedenklich aus und er hat offenbar grosse Schmerzen im Knie. Beim Unterqueren eines halb umgestürzten Baumes verliert er zudem seine Mütze, welche weiter unten auf einem Stein liegen bleibt. Gemeinsam gelingt es uns, seine Mütze zu retten. Er ist sehr dankbar. Das war dann allerdings meine letzte Begegnung mit Clayton. Er hat wenig später das Rennen aufgegeben und ist abgereist.

Die heutige Strecke ist wunderschön (Im nachhinein muss ich sagen es war für mich das schönste Streckenstück). Wir hatten schönes Wetter und ich fühlte mich ausgezeichnet. Wir liefen durch Wälder, über Wiesen und Weiden, entlang des Lac de Joux, runter nach Vallorbe. Bedingt durch die Höhe war auch die Hitze erträglich.

Bei der Verpflegung km 33 spüre ich, dass ich noch gut bei Kräften bin. Ich verabschiede mich daher aus der Gruppe von Andreas und schliesse mich einer stärkeren Gruppe an, welche am Morgen später gestartet ist und uns jetzt eingeholt hat. Zusammen mit André laufe ich dann noch die letzten 14 km recht zügig ins Ziel nach Vallorbe.

6 ½ Stunden waren wir unterwegs für die 47 km. Wieder keine berauschende Zeit. Aber ich bin zuversichtlich für den nächsten Tag. Ich fühle mich gesund. Auch mein Magen knurrt zufrieden. Ich habe ihm ausschliesslich Tee, Banane und heisse Bouillon gefüttert. Im Ziel hatte ich einen Heisshunger und ass meine Spaghetti diesmal ohne Probleme.

Als ich nach der Dousche in die Turnhalle komme liegt Sören, der Däne, mit einem furchtbar geschwollenen Fussgelenk auf der Matte und schaut jämmerlich traurig drein. Da kein Eis vorhanden war, hat ihm ein Kamerad im Lebensmittelladen einen Sack tiefgefrorene Erbsen gekauft - das kühlte so gut, dass Sören am nächsten Morgen wieder mitlaufen konnte und auch das Ziel in Basel erreichte. Auf die Erbsen muss man zuerst kommen.

 

3. Tag Vallorbe - Fleurier 37 km +1380 m/-1389 m

Ich bin schon oft 37 km am Stück gelaufen.
Ich mag es, am frühen Morgen zu laufen.

In der Nacht ging ein Unwetter über weite Teile der Schweiz nieder. Es hat fürchterlich geregnet. Hans, René und Reto haben trotzdem in ihren Zelten ausgeharrt, entsprechend schlecht hatten sie jedoch geschlafen. In der Turnhalle war es warm und gemütlich - etwas schnarchig, aber dagegen kann man sich ja schützen. Ich habe trotzdem schlecht geschlafen, war einfach nervös. Auch André, der sich um 05.00 Uhr aus dem Schlafsack schält, jammert über eine schlechte Nacht. André wird heute 45 Jahre alt. Er hat damit denselben Jahrgang wie ich. Diese Laufwoche hat er sich auf den Geburtstag gewünscht. Das ist eben das Holz, aus dem Läufer geschnitzt sind.

Auch Andreas Engler hat heute Geburtstag. Er wird 72 Jahre alt. Als ich mich aufrapple, sehe ich bereits viele Leute, die ihn umringen und gratulieren.

Ich starte heute in der schnelleren Gruppe und freue mich, dass ich körperlich weiterhin keine Probleme habe und mich ausgeruht fühle. Nach dem Gewitter ist es am Morgen angenehm kühl, die Berge sind nebelverhangen. Was zieh ich an? Die unterschiedlichsten Hosenlängen am Start zeigen, dass die Meinungen bezüglich Kleiderfrage ziemlich auseinander gingen. Mit 37 km wartete zwar die kürzeste Etappe, mit den 2 Aufstiegen auf Le Suchet und den Chasseron warteten jedoch Kletterpartien auf 2 Mal über 1'600 m. Welche Wetterverhältnisse würde man dort oben antreffen? Ich entschied mich für kurze Hosen und ein etwas wärmeres Shirt.

Beim Aufstieg zum Le Suchet ging es dann los. Zuerst kam der Nebel und dann ein heftiger Regen. Innert Kürze waren wir pflotschnass und mit der Nässe kam die Kälte. Dies führte dazu, dass sich die Gruppe sehr schnell auflöste. Wer konnte, erhöhte das Tempo, um möglichst bald in Fleurier zu sein.

Der 2. Aufstieg auf den Chasseron war dann noch trister. Zu Nässe und Kälte kam nun noch der Wind - fehlte nicht viel und es hätte geschneit. Ich musste mir mehr als einmal in Erinnerung rufen, dass ich freiwillig hier war und damit überhaupt keinen Grund hatte, mich zu beklagen. Oben auf dem Chasseron gab es eine warme Bouillon und ich konnte in meine dort deponierte Regenjacke schlüpfen. Die restlichen 10 km runter nach Fleurier liefen André und ich zusammen mit der Spitzengruppe. André überquerte dann die Ziellinie - unter dem Applaus der Mitläufer - als erster. Schliesslich hatte er Geburtstag. Er revanchierte sich beim Nachtessen und spendierte eine Runde Weisswein und zusammen mit Andreas, dem zweiten Geburtstagskind, ein Dessert.

5 h haben wir für die 37 km gebraucht, immer noch nicht berauschend, jedoch in Anbetracht der Verhältnisse durchaus zufriedenstellend.

 

Blick auf Fleurier
Blick auf Fleurier

4. Tag Fleurier - La Chaux de Fonds 42 km +1028 m/-773 m

Alles i.O. beim Aufstehen. Fühle mich ausgeruht und weiss, dass 42 km durchaus im Bereich meiner Möglichkeiten liegen. Das Wetter ist ideal, trocken, bewölkt, um die 20°.

Von Fleurier aus geht es ca. 15 km talauswärts, entlang dem Flüsschen Areuse bis zu der Ortschaft Noiraigue. Alles flach, so schön zum Einrollen. Wir sind gemütlich mit ca. 10 km/h unterwegs und haben genügend Luft, den einen oder anderen Schwatz zu führen. Nach der Verpflegung in Noiraigue werden wir dann brutal daran erinnert, dass wir uns für einen Berglauf gemeldet haben. Abrupt steigt der Bergweg - auf einer Strecke von ca. 2 km sind gut 500 Höhenmeter zu bewältigen. "Keine Gnade für die Wade" rief anfangs noch einer. Dann war für lange Zeit Ruhe. Es hatte niemand mehr Luft, auch nur einen Pieps zu sagen. Der Hans Schnyder sei diese Wand hinaufgesprungen erzählt man sich abends beim Bier. Ich kann’s mir zwar kaum vorstellen, aber dem Kerl ist alles zuzutrauen. Er war der absolut stärkste Läufer in unserem Feld und wenn das einer mal austesten wollte, so machte er mit ihm ein bisschen Fahrtspiel, dann war die Hackordnung sofort wieder klar.

Wir erreichten schliesslich ein herrliches Plateau und hatten einen prächtigen Ueberblick, zurück ins Val de Travers und gegen Süden auf den Neuenburgersee. Gewaltig die Natur, gewaltig die Uebersicht, gewaltig die Höhe, die wir innert Kürze erklommen hatten. Im Aufstieg haben wir uns, d.h. André, Martin, Sören und ich, von der Gruppe getrennt und bilden nun für einige Zeit die Spitze der Läufer. Wir bleiben auf dem Hochplateau und erreichen beim Mont Racine den heutigen Kulminationspunkt (ca. 1'400 m). Bis ins Ziel fehlen gut 15 km.

Ca. 10 km vor dem Ziel macht sich erstmal mein linkes Schienbein bemerkbar. Es beginnt mit einem leichten Schmerz, ganz harmlos. Dieser steigert sich dann allerdings bis ins Ziel und mir wird bald klar, dass dies der Anfang einer Sehnenscheidenentzündung ist. Ich orientierte meine Mitläufer und zu meinem Erstaunen kämpfte auch André mit denselben Problemen am rechten Schienbein. Die restlichen 5 km steigerten wir das Tempo noch (ca. 4 ½ min/km), da uns gerade Peter der Arzt mit seiner Gruppe zu überholen versuchte. André und ich nahmen den Arzt in die Mitte und buchten noch laufend einen Termin.

5 ½ h für die 42 km, eigentlich gut, wenn man die Höhendifferenz in Betracht zieht.

Nach der Dousche leistete ich mir eine Massage. Anschliessend Arzttermin. Trotz guter Betreuung mussten André und ich zur Kenntnis nehmen, dass Sehnenprobleme nicht über Nacht einfach verschwinden. Diese Schmerzen würden wir bis zum Ziel ertragen müssen. Als einzige Hoffnung blieb, dass sich die Entzündung nicht weiter verschlimmerte.

Es war überhaupt auffallend, dass die Sehnenprobleme im Läuferfeld zunahmen. Zurückzuführen auf Ueberlastungen, welche vorallem die ungeübteren Läufer betrafen. Ein Kamerad erzählte mir, dass er heute froh war, beim Abstieg vom Mont Racine alleine gelaufen zu sein. Dadurch hätte niemand gehört, wie er bei jedem Schritt laut aufgeschrien hätte.

Mehr als die Hälfte ist geschafft. Ich hatte lange Zeit keine Probleme - und als die Probleme kamen, kamen sie da, wo sie niemand erwartete.

André und ich, vor dem Start in La Chaux-de-Fonds
André und ich, vor dem Start in La Chaux-de-Fonds

5. Tag La Chaux de Fonds - Biel 52 km +1340 m/-1890 m

52 km an einem Tag. Da passiert viel. Also der Reihe nach:

Ich hatte eine unruhige Nacht und war auch etwas deprimiert. Der ständige, leichte Schmerz im Schienbein drückte auf die Stimmung. Ich wollte einfach nicht wahrhaben, dass mir der Einlauf in Basel wegen einer Sehnenscheidenentzündung verwehrt werden sollte. Beim Aufstehen fühlte ich mich trotzdem gut und ärgerte mich doppelt über mein Pech. Eigentlich war ich ja so gut drauf.

Nach dem Frühstück verpasste mir Michael der Masseur einen Tape-Verband, um das Fussgelenk etwas zu fixieren. Damit wurde die Beweglichkeit des Gelenkes etwas eingeschränkt und die Reizung vermindert. Nach einem kurzen Test und der Feststellung, dass das Wetter gut war, hellte sich auch meine Stimmung etwas auf.

Bald nach dem Start um 07.20 Uhr kam ich in einen guten Rhythmus und stellte erleichtert fest, dass die Schmerzen nicht zunahmen. Irgendwann überquerten wir die Vue des Alpes (ca. 1'400 m) und begannen den Abstieg nach Le Pâquier. André und ich führten die Spitze der Gruppe 2 an und hatten gerade die Gruppe 1 ein- und überholt, da passierte es. Ins Gespräch vertieft (Wir unterhielten uns gerade über den NY-Marathon) übersahen wir ein Wegzeichen und folgten dem falschen Weg. Die uns Nachfolgenden vertrauten uns und wurden dadurch ebenfalls in die Irre geleitet. So kam es, dass ein Pulk von ca. 20 Läufern bös vom richtigen Weg abkam. Irgendwann bemerkten wir das Problem und nach einigen ratlosen Augenblicken mussten wir - wohl oder übel - den Weg zurück rennen und die richtige Abzweigung suchen. Das hatte uns gerade noch gefehlt, eine Zusatzschlaufe auf der heutigen Königsetappe.

Nach Le Pâquier folgte der lange Aufstieg von ca. 900 Höhenmetern auf den 1'600 m hohen Chasseral. Das Wetter war ideal, die Aussicht herrlich, die Schmerzen vergessen - es gibt nichts Schöneres als Laufen. Schlag 12.00 Uhr erreichen André, Hans-Dieter und ich den Turm auf dem Chasseral. Noch fehlen 20 km ins Ziel.

Verpflegung auf dem Chasseral: v,l.n.r.: die Läufer André, Hans-Dieter und ich
Verpflegung auf dem Chasseral: v.l.n.r.: die Läufer André, Hans-Dieter und ich

Der Rest nach Biel war dann landschaftlich sehr schön, doch auch anstrengend, denn nach 40 Laufkilometern beginnt die Lauffreude doch ziemlich schnell nachzulassen. Das Ganze wird dann zu einer Durchhalteübung. Aber irgendwann, d.h. nach ziemlich genau 7 h war es geschafft .... und wir auch. Meine Schmerzen am linken Bein war gleich geblieben, allerdings hatte sich nun erstmal auch die entsprechende Sehne am rechten Bein bemerkbar gemacht. Ich war wieder stark verunsichert und beschloss deshalb, mich heute mit 2 Bier zu verwöhnen.

Nachtlager in Biel
Nachtlager in Biel

Teil der Gruppe 2 vor dem Start in Biel
Teil der Gruppe 2 vor dem Start in Biel
v.l.n.r.: Sören, André, Max, "Gutentag" und ich

6. Tag Biel - Balsthal 49 km +1634 m/-1590 m

Nach dem Aufstehen fühle ich mich ausgeruht; die Schmerzen in beiden Schienbeinen sind allerdings unverändert. Nach dem Start in Biel steigt der Weg auf den ersten 22 km stetig an - um insgesamt etwa 1'000 m. Ich merke schon bald, dass dies ein harter Tag werden würde. Die Schmerzen sind nun stärker geworden, die Gelenke angeschwollen. Nach km 22, auf dem Grenchenberg, muss ich André und Max ziehen lassen. Hans-Dieter bleibt bei mir.

Das Wetter ist ideal, sonnig, etwas bisig, nicht zu heiss. Der Blick zurück auf den weit entfernten Chasseral ist atemberaubend. Es ist schon imponierend zu sehen, welche Distanzen und Höhen wir innert kürzester Zeit zurücklegen. Bei km 31 erreichen wir den Weissenstein. Die Gegend wird mir zunehmend vertraut und ich hätte durchaus komfortablere Wege gewusst, um das Ziel Balsthal zu erreichen. Allerdings, wir waren Teilnehmer eines Berglaufes und die Route führte hartnäckig über die Kreten, die sich uns in den Weg stellten. Nach der Ueberquerung des Höllchöpfli bei km 40 folgte der Abstieg über die Schwängimatt - beinahe 1'000 m runter nach Balsthal. Dies war furchtbar - nebst den Schienbeinen meldeten sich nun auch die Knie, welche diese Strapaze überhaupt nicht lustig fanden. Hans-Dieter und ich erreichten Balsthal um ca. 14.40 Uhr, nach 7 ¼ h. Ich fühlte mich ziemlich mies.

Blick von Grenchenberg ins Mittelland
Blick von Grenchenberg ins Mittelland

7. Tag Balsthal - Basel 50 km + 1100 m/- 1330 m

An diesem Morgen starteten wir 1 h früher. Für mich ging es nun darum, irgendwie nach Basel zu kommen. Ich startete deshalb wieder in der 1. Gruppe von Andreas Engler. Durchkommen ist die Devise.

Auf den ersten 15 km steigen wir von knapp 500 auf 1'100 m. Nach einem kurzen Abstieg geht es dann am Passwang nochmals auf über 1'100 m. Das Wetter ist scheusslich - zum Davonrennen. Im Nieselregen und dichten Nebel steigen wir - André, Max und ich - auf, Richtung Passwang. Bei 1'150 m passiert’s. Statt rechts weg, Richtung Vogelberg, steigen wir im Nebel weiter auf Richtung Passwang, höchster Punkt, auf ca. 1'300 m. Irgendwann hör ich den Max von hinten ein Selbstgespräch führen: "Wenn ich das zu Hause erzähle, das glaubt mir niemand; das kann man nicht mal beschreiben und fotografieren kann man es auch nicht."

Nur durch Zufall finden wir zurück auf den richtigen Weg und erschrecken einigermassen, als wir wieder Läufergruppen ein- und überholen, die wir bereits einmal hinter uns gelassen hatten. Viel Kraft, Moral und ca. 20 - 30 Minuten haben wir durch dieses Missgeschick verloren.

Wer geglaubt hatte, es gäbe heute noch ein leichtes Einrollen nach Basel, der sah sich bitter enttäuscht. Die Wetterverhältnisse, die Distanz und das Streckenprofil verlangten nochmal alles. Es zeigte sich, dass vorallem die Wetterbedingungen wesentlichen Einfluss haben auf die Moral der LäuferInnen. Es gab dann auch einige, welche die letzte Etappe als "härteste" bezeichneten.

Ich erreiche das Ziel in Basel nach 7 h Laufzeit im Regen.

 

Organisation

Organisieren können viele, auch gut Organisieren können viele. Beim SJM reicht dies jedoch nicht aus. Nur wer beweglich ist und auch zu Improvisieren versteht, wird schlussendlich in der Lage sein, ein Unternehmen wie den SJM erfolgreich über die Runden zu bringen. Urs Schüpbach und sein Team haben dies voll im Griff. Sie sind eingespielt, harmonieren super und lassen sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen. Sollte es irgendwann trotzdem laute Worte geben, so werden die Probleme angepackt und nicht verdrängt. Beispiele:

In Genf wurde unsere Standartunterkunft kurzfristig an Asylbewerber vergeben. Da galt es, innert kürzester Zeit für den ganzen Tross eine neue Bleibe zu finden.

Durch die Hitze, vorallem anfangs Woche, mussten kurzfristig zusätzliche Wasserstellen eingerichtet werden - kein Problem.

In Fleurier war das Untergeschoss des Schulhauses überschwemmt worden; Douschen und WC unbenützbar. Noch bevor die ersten Läufer im Ziel eintrafen, war eine Ersatzlösung gefunden und der Weg dorthin markiert.

Das Volk der LäuferInnen ist zwar ein aufgestelltes, gemütliches Völklein, aber LäuferInnen haben schon ihre Eigenheiten. Sie können zum Teil sehr empfindlich reagieren. Es war für mich bemerkenswert, wie das Betreuerteam auf die Wünsche, Wünschlein und Fürze jeden Einzelnen eingegangen ist und nie die Nerven verloren hat.

Es ist schön, wenn man sich mal für eine ganze Woche um nichts anderes kümmern muss und einfach laufen darf. Das geht nur, wenn das Drumherum 100 % gewährleistet ist. Der SJM ist top organisiert, das Essen ist erstklassig und der Preis äusserst bescheiden.

Ein dickes Kompliment und herzliches Dankeschön an Urs Schüpbach und das ganze Team. Ich wünsche dem Swiss Marathon Team für die Zukunft alles Gute, vorallem, dass es gelingen wird dieses Laufereignis über die kommenden Jahre am Leben zu erhalten, damit noch viele Läuferinnen und Läufer die Möglichkeit haben den uns so nahen und trotzdem so unbekannten Jura besser kennenzulernen.

Basel- Läufer und Helfer im Ziel
Basel- Läufer und Helfer im Ziel

Nachsatz

Und nun .....

Ich bin 323 km in 7 Tagen gerannt, bin 8'500 m den Berg rauf und genausoviel wieder runter gelaufen. Ich habe geschwitzt, ich habe gefroren, ich habe gelacht, geflucht und gelitten. Ich habe auch eine Urkunde erhalten, die ausser mir niemanden interessiert. Vorallem habe ich mich selber wieder einmal erfahren, meine Grenzen kennengelernt - körperlich wohl etwas weiter gesteckt - menschlich gespürt, wo vorallem die Schwächen liegen und als Folge daraus - hoffentlich dazugelernt.

Ich bin kein Spinner. Ich habe eine Herausforderung gesucht und erlebt, wie sich mein Körper innert kürzester Zeit umstellt und den erhöhten Anforderungen gewachsen ist. Ich habe aber auch gespürt, dass sich der Körper sofort meldet, wenn es für ihn zu viel wird. Trotz meinen Sehnenproblemen bin ich nach diesen 7 Tagen keineswegs erschöpft und ausgelaugt. Im Gegenteil ich fühle mich gut und brauche keine weitere Erholungszeit - auch wenn ich meine Laufschuhe nun für einige Tage stehen lasse.

Würde ich es wieder tun ......

Klar: Ja! Gerne. Allerdings nicht den Marathon, im Wettkampf gegen Mann und Uhr. Für mich ist der Trail die ideale und angemessene Art den Jura zwischen Genf und Basel zu bereisen und kennenzulernen. Beim Trail hat man Zeit, einmal kurz anzuhalten, sich umzuschauen, zu geniessen und sich mit einem Laufkamerad zu unterhalten.

Uebrigens ich habe kein Gramm abgenommen.

Lupfig, im Juli 1999

Toni Bossard

Die Bosi's aus Lupfig
Die Bosi's aus Lupfig
Evi und ich, zusammen mit den Buben Andj und Patrick

made by Toni Bossard für Passtschon98 ®, im Juli 1999