Wie man durch zuviel Trinken fast den Start versäumt und dann die Kenianer erfolgreich vor sich hertreibt.
Marathon beginnt viele Monate vorher im Kopf und im Wald. (M)Ein Marathontag selbst
startet um 4:00 Uhr morgens durch lautes Regenprasseln auf dem Fensterbrett. Jetzt hat uns
der Kaltfrontausläufer doch erwischt, denke ich. Innerlich werfe ich mein
Bekleidungskonzept für den Tag über den Haufen, drehe mich um und schlafe ohne ein neues
Konzept unruhig weiter.
Zwei Minuten vor 6:00 weckt mich die innere Uhr. Marathoni-Frühstück: Birne, weisses
Toast mit Honig und viel Trinken. Wetter prüfen. Noch mehr Trinken. Ich bin noch zu
müde, ich fühle das Wetter noch nicht und entscheide mich für einen kurzen Morgenlauf
um die Bekleidungsfrage zu klären. Easy. Locker, 1,5 km. Ein Silberstreif am Horizont
läßt mich zur ursprünglichen Kleiderwahl zurückkehren. Es ist ungewöhlich warm. Also
viel Trinken!
Die S-Bahn aus dem Taunus ist voll vermummter Läufer, erkennbar am Chip am Schuh und
Kleiderbeutel. Alle, auch ich haben ihr Fläschchen dabei und trinken brav. Viel Trinken!
Wer nicht genug trinkt, dessen Körper baut später ab
In der Messehalle in Frankfurt finde ich mit ein paar anderen Läufern eine ruhige Ecke.
Die kilometerlangen Flure sind ideal zum energiesparenden Einlaufen ohne
Wärmeschutzbekleidung. Besser so, als draussen stehen und frieren. Am Start noch nix los.
Ideal auch eine Toilette ohne kilometerlange Schlangen. Um 9:15 höre ich auf zu trinken.
Wir joggen uns langsam warm. Dann zur Toilette. Wir geben unsere Kleiderbeutel ab. Wieder
Toilette. Die anderen Trinken immer noch. Ich nicht mehr, denn die Kontrollfarbe der
relevanten Körperflüssigkeiten hat von gelb auf weiss gewechselt.
9:35 Ich schaue einmal raus. Kalt brrr! Der Start beginnt sich zu füllen. Eklig kalt in
der kurzen Hose. Die Blase reagiert sofort. Wieder rein. Toilette. Weiter warmlaufen. Ich
bin jetzt ziemlich aufgeregt. Deshalb wieder zur Toilette. Unglaublich. 9:50 Ich gehe
runter zum Start. Verdammt: Muss dringend Pinkeln! Also warmlaufen zurück zur Toilette.
9:55 Ich bahne mir meinen Weg durch die Zuschauer Richtung Start. Weitere Körpersignale
will ich jetzt erst einmal ignorieren. Der Zugang zu meinem Startraum ist nicht dort, wo
er gemäß Plan und Ankündigung sein sollte. Vielmehr ist er mit Drängelgittern
abgeriegelt. Im Startraum stehen die Menschen extrem dicht. Ettliche andere Läufer sind
wie ich ebenfalls noch nicht im Startsektor. Die Stimmung ist aufgekratzt, der Moderator
zählt auf Null herunter. Startschuss!
10:00 Der Läuferwurm vor mir bleibt zunächst bewegungslos und schiebt sich erst nach
2Minuten langsam Richtung Starttor. In diesen Fluss gilt es von der Seite einzuscheeren.
Dafür muss der unbewegliche, zähe, eselsartig sture Zuschauermob überzeugt werden, sich
kurz zur Seite zu bewegen. Es kostet mich einige Überzeugungsarbeit, ihnen zu vermitteln,
dass ich mit meiner Startnummer auf der Brust und den kurzen Hosen mich nicht vor sie
drängeln und dort stehen bleiben will. Als eine kleine Lücke entsteht, überwinde ich
das Drängelgitter in alter Startbahn-West-Gegner-Manier. Statt Molotowcocktails habe ich
jedoch Kohlenhydrate in meinem Läufergürtel. In zunehmendem Alter verändern sich
Freizeitaktivitäten halt.
10:04:45 Ich durchquere das Starttor und starte meine Stoppuhr. Jetzt gilt es!
Wahrscheinlich kommt mir das Adrenalin schon aus den Ohren heraus. Trotz langsamem Traben
zeigt meine Pulsuhr 155, bei der Geschwindigkeit sind das sonst 30 Schläge weniger.
Schneller geht gar nicht, denn es ist definitv zu eng. Noch ahne ich nicht, wieviele
Läufer vor mir sind. Am Streckenrand stehen vereinzelte Läufer mit blutigen Knien.
Zuviele Beine auf engem Raum. Also mitschwimmen und auf Chancen warten. Ab Km 1 entstehen
kleine Lücken, durch die ich hindurchschlüpfen kann, bevor sie sich wieder schliessen.
Auf der Gegenstrecke sehe ich die Spitze mit den Kenianern bereits aus dem Bankenviertel
zurückkommen. Elegant schauen sie aus in der warmen Morgensonne, pfeilschnell und Platz
haben sie genug. Ich nicht. Die Strecke verengt sich in der Stadt immer wieder auf
historisch gewachsene Nadelöhre, an denen nichts voran geht. Um trotzdem voranzukommen,
nehme ich parallel verlaufene Radwege und Strassenbahnschienen in die Laufstrecke mit auf.
Die Aussenkurven sind in der Regel freier und hier kann ich mit kleinen Zwischenspurts
zusätzliche Trainingskilometer generieren.
10:53 Uhr: Ich passiere km 10. Das entspricht einem Schnitt von 4:48Min auf einen
Kilometer. Dafür bin ich nicht hierhergekommen! Immer noch energiegeladen stürme ich
nach vorne. Psychisch zwar nett, ständig zu überholen, doch diese Läufer hier sind eine
zähe Masse mit Ipods auf den Ohren. Wer bei Kilometer 11 atmet wie kurz vorm
Zusammenbruch wird für mein Läuferego nicht als adäquater Wettbewerber auf der Überholt-Liste
gutgeschrieben, sondern unter Streckenhindernis verbucht. Erstaunlich, was
Adrenalin mit mir macht. Ich muss lächeln und beginne zu entspannen. Mit großer Freude
entdecke ich meinen Bruder unter den Zuschauern. Ich bin fast schon vorbei, da kriegen wir
doch noch Blickkontakt.
11:00 Uhr: Als ich mich bei Kilometer 12 zwei Läufern mit blauen Fähnchen auf dem
Rücken von hinten nähere, verschwindet meine Entspannung schlagartig. Es sind die
Zielzeit 3:29-Stunden-Tempomacher. Soweit liege ich zurück! Dann kapier ich meine Uhr
nicht. Hmmm. Bleiben nur 32km, kaum möglich von hier aus auf meine heimliche
Zielzeit 3:00 zu erreichen. Rechnen kann ich schon nicht mehr und verlege meinen Focus von
nun an auf einen zügig-energiesparenden Laufstil, denn es geht bei strahlendem
Sonnenschein am Main entlang durch charmante Frankfurter Ortsteile, die ich so noch nie
wahrgenommen habe.
11:25 Uhr: Die Menschen am Streckenrand verbreiten gute Laune und manche rufen sogar
meinen Namen. Sambatakt und Hardrock stimulieren die Beine, Bratwurstduft beginnt sehr
tiefe Hirnareale zu erreichen. Attraktivste Frauen am Strassenrand dagegen heute nicht.
Vielmehr bleibt mein Puls konstant bei komoden 170 Schlägen/Minute. Laufen verändert.
1:36:37 Uhr Halbmarathondurchgangszeit. Katastrophe! In Neu-Isenburg waren es gerade mal
1:26!! Multiplizieren mit 2 schafft mein Intellekt gerade noch. Ich definiere mir ein
neues Ziel: Mindestens 3:15, besser 3:10. Auf der Schwanheimer Brücke sehe ich die
Skyline Frankfurts aus der Ferne. Nur noch zurück, dann ist es schon geschafft. Nicht
nachlassen, sondern schneller werden!
Kilometer 35. Keine Ahnung, wie spät es ist.
Das Überholen wird schwieriger. Meistens. Einige gehen. Andere scheiden aus. Doch die
meisten laufen. Wer es bis hier geschafft hat, ist auch kein wirklich langsamer Läufer.
Hat wie ich in den letzen Wochen viele Trainingskilometer gesammelt. Ausserdem beginnen
meine Beine zu schmerzen. Da rächt sich jetzt das Schlangenlinien-Laufen, über
Bordsteinkanten hüpfen und durch Lücken sprinten der ersten 10 km.
Als ich mich gerade bemitleiden will und mein innerer Schweinhund Oberwasser erhält,
helfen mir zwei blaue Fahnen, die ich weit voraus entdecke: Es müssen die 3:14 Pacemaker
sein! Mein Jagdinstinkt erwacht. Endlich etwas anfassbares statt eine Hatz auf virtuelle
Ankunftszeiten! Doch die Jungs müssen etwas gemerkt haben. Ich überhole ständig,
trotzdem verschwinden sie mir immer wieder aus den Augen. Aha! Überholen bedeutet jetzt
nur noch relativ schneller zu sein. Die Masse der Läufer wird langsamer! Dran
bleiben! ruft mir jemand zu. Jawohl, denke ich.
13:00 Uhr Bei Km40 an der Alten Oper geht es wieder durch die Nadelöhre. An meine
Pacemakerbeute bin ich bis auf 200m herangekommen. Jetzt sind es nur 2km bis in Ziel. Das
kann ich schaffen!
In dieser Phase passiert innerlich viel. Ich muss intensiv an meinen siebenjährigen Sohn
denken, den ich vor dem Fernseher wähne, welcher ,wie ich später höre tatsächlich hier
am Streckenrand steht. Ich lege die letzten 2km mit einem Schnitt von 3:58min/km zurück.
Vor einem Jahr hätte ich nie geglaubt, daß meine Beine überhaupt so schnell laufen
können. Und: Ich ziehe an den 3:14 Pacemakern vorbei! Ja!
Im Zieleinlaufkanal vor der Festhalle höre ich noch eine nette Stimme meinen Namen rufen.
Die Zuschauer in Frankfurt sind doch anders als die Eichhörnchen im Vordertaunus!
13:15:59 Uhr Als Nettozeit errechnet das System für meinen siebten Volkslauf und zweiten
Marathon überhaupt am 31.10 eine Laufzeit von 3:11:00. Die warme Suppe am Ausgang ist ein
Traum. Ich bin halbwegs zufrieden. Nächstes Jahr bin ich ein M45 und bei der
Startaufstellung schlauer. Mal sehen, was dann passiert.
made by Peter Müller ®, im Mai 2008